Status
Erwachsenenbildung ist nach Anzahl der Teilnahmen der größte Bildungssektor in Österreich. Bei Angeboten der Aus- und Weiterbildung wird aber in der Regel davon ausgegangen, dass ausreichende Grundkompetenzen bereits vorhanden sind. Erst in den letzten Jahren ist das Bewusstsein darüber gewachsen, dass für viele Menschen in Österreich diese Grundvoraussetzung zur Teilhabe nicht selbstverständlich ist.Das Augenmerk in diesem Teil des Rahmenleseplans wird u.a. auf die > PIAAC-Studie2 zur Lesekompetenz Erwachsener sowie auf die Evaluierungsergebnisse der > „Initiative Erwachsenenbildung“ gelegt. Bis zum Jahr 2012 ging man aufgrund von > UNESCO-Schätzungen von ca. 600.000 Erwachsenen in Österreich aus, die Schwierigkeiten im Gebrauch alltagsrelevanter Lese- und Schreibfertigkeiten haben. Das bedeutet, dass diese Menschen trotz absolvierter Schulpflicht ein wenig lesen und schreiben können, aber nicht genug, um am Arbeitsplatz oder im privaten Bereich im Alltag tatsächlich gut zurechtzukommen. Betroffene können beispielsweise ihren Kindern nicht bei den Hausaufgaben helfen, eine Speisekarte oder einen Mietvertrag verstehen (vgl. Zentrale Beratungsstelle für Basisbildung und Alphabetisierung 2015).
Lesekompetenz von Erwachsenen in Österreich
Seit Herbst 2013 gibt es nun Zahlen zur Größenordnung mittels der in Österreich erstmals durchgeführten PIAAC-Studie der OECD: „Rund 17 % der 16- bis 65-Jährigen in Österreich, das entspricht ungefähr einer Million Menschen, verfügen über nur niedrige Lesekompetenz. Während einzelne Wörter und kurze Sätze meist bewältigt werden können, haben diese Personen massive Probleme beim sinnerfassenden Lesen von Textpassagen“ (Böhnisch & Reif 2014, S. 226).
Mit „Lesekompetenz“ wird bei PIAAC (und auch bei > PISA) die Fähigkeit des sinnerfassenden Lesens umschrieben, also die Kompetenz, geschriebene Texte zu verstehen, zu verwenden und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, um am Gesellschaftsleben teilzunehmen, die eigenen Ziele zu erreichen und um die eigenen Fähigkeiten und das eigene Wissen weiterzuentwickeln (vgl. OECD 2015). Diese Definition umfasst das Lesen und Verstehen von „geschriebenen Texten“, nicht aber das Sprechen und Schreiben an sich. Die Lesekompetenz kann jedoch nie isoliert verstanden werden, sondern ist wesentlich von den Literalitätsanforderungen der jeweiligen Gesellschaft abhängig (vgl. Böhnisch & Reif 2014, S. 226).3
Vom oft so bezeichneten „funktionalen Analphabetismus“ spricht man, wenn jemand über keine ausreichenden lese- und schreibbezogenen Kenntnisse verfügt, die im privaten und beruflichen Lebensumfeld vorausgesetzt werden. So reicht z.B.: das Lesen und Schreiben
einzelner Wörter nicht aus, um Briefe zu lesen, Gebrauchsanleitungen oder Beipackzettel von Medikamenten zu verstehen oder gar Formulare von Behörden auszufüllen. Auch beim Schreiben gibt es eine Bandbreite unterschiedlicher Kenntnisse: Manche Erwachsene können nicht viel mehr als ihren Namen schreiben, andere produzieren verständliche kurze Texte (vgl. Zentrale Beratungsstelle für > Basisbildung und Alphabetisierung 2015a).
Die Ursachen sind vielschichtig: Kompetenzen können bei mangelnder Übung verlernt werden, wenn der Anschluss an den Bildungs- und Arbeitsmarkt nicht gelingt, negative Schul- und Lernerfahrungen hindern daran, sich freudvoll weiterzubilden, das soziale Umfeld verhindert ebenfalls das Kompetenztraining, wenn es z.B. nur wenig Unterstützung bieten kann. Persönliche Probleme, Arbeitslosigkeit oder Krankheit beeinträchtigen den Bildungserwerb, auch Personen mit Migrationsbiografie und einem andersartigen Schriftsystem oder Schulsystem können benachteiligt sein (vgl. Zentrale Beratungsstelle für Basisbildung und Alphabetisierung 2015). Wie die PISA-Studie gezeigt hat, verlassen viele Schülerinnen und Schüler das Schulsystem, ohne ausreichend sinnerfassend lesen gelernt zu haben > Vergleiche Kapitel Jugendliche.
Eine ausschließliche Orientierung am oft eng verstandenen Kompetenzbegriff greift aber zu kurz – denn „lifelong literacy“ lässt sich nicht nach „lesekompetent“ und „nicht lesekompetent“ dichotomisieren; vielmehr muss das Konzept Literacy im Kontext mit individuellen und lebenslangen Lernbiografien verstanden werden (vgl. Hanemann 2015, S. 4). Literacy ist somit untrennbar verbunden mit Sprache, Kultur, Kommunikation, Wissensproduktion, kritischem Denken, Ideenkreation, Problemlösefertigkeiten und selbstständigem Lernen und kann auch gerade bei Erwachsenen nicht nur auf Wissen und Fertigkeiten begrenzt sein.
Weitere Ergebnisse und Annahmen im Überblick
Wie oben erwähnt, verfügt ungefähr eine Million Menschen der 16-65-Jährigen in Österreich über niedrige Lesekompetenz. 1,8% weisen tatsächlich eine mangelnde Lese-bzw. Sprachfähigkeit auf; davon jeweils die Hälfte männlich, die andere weiblich. Diese konnten gar nicht oder nicht in vollem Umfang an der PIACC-Erhebung teilnehmen, wurden jedoch in die Gesamtauswertung miteinbezogen. Mehr als die Hälfte in dieser Gruppe verfügt über maximal einen Pflichtschulabschluss. Rund 78% haben eine ausländische, 22% die österreichische Staatsbürgerschaft. Mehr als die Hälfte der Personen mit mangelnder Lese-und Sprachfähigkeit lebt im städtischen Raum (vgl. Böhnisch & Reif 2014, S. 233ff.).
2,5 % der österreichischen Bevölkerung können höchstens konkrete einzelne Informationen in kurzen Texten identifizieren (rund 140.000 Personen). Das Verständnis für Satzstrukturen ist nur in geringem Ausmaß vorhanden (Lesekompetenzstufe unter 1; u.a. nur Basisvokabel, wenig Verständnis von Satzstrukturen).
12,8 % verstehen kurze Texte in unterschiedlichen Textformaten (z.B. digital oder gedruckt) mit geringem Anteil an ablenkenden Informationen (rund 720.000 Personen). Das Verständnis für Satzstrukturen ist vorhanden, jedoch haben diese Personen Probleme, etwas längere Texte mit widersprüchlicher Information zu verstehen (Lesekompetenzstufe 1) (vgl. Böhnisch & Reif 2014).4
Personen in Österreich mit Deutsch als Erstsprache erreichen bei der Lesekompetenz ein höheres Kompetenzniveau als Personen mit nicht-deutscher Erstsprache. Diese Differenz ist in Österreich um rund 20 % höher als im OECD-Durchschnitt (vgl. Böhnisch & Reif 2014, S. 227ff.).
Bereits verwirklichte Maßnahmen
Basisbildungskurse bis hin zu Kursen zum Nachholen des Pflichtschulabschlusses werden im Rahmen der „Initiative Erwachsenenbildung“ sichergestellt und angeboten und sind deshalb für die Teilnehmenden kostenlos (vgl. Zentrale Beratungsstelle für Basisbildung und Alphabetisierung 2015; vgl. Initiative Erwachsenenbildung 2015). Die wesentliche Leistung der österreichischen Basisbildung besteht darin, dass eine sogenannte > 15a-Vereinbarung zwischen Bund, Ländern und Europäischem Sozialfonds existiert, um die Basisbildung zu fördern. In dieser Vereinbarung sind alle Strategien festgehalten.
Darüber hinaus wird der erwachsenengerechte Pflichtschulabschluss, die überinstitutionelle, qualitätsgesicherte Bildungsberatung (z.B. auch in Öffentlichen Bibliotheken angesiedelt) und der Qualitätsrahmen Ö-CERT für die Erwachsenenbildung sowie die „wba Weiterbildungsakademie Österreich“ zur Qualitätsentwicklung und Professionalisierung in der Erwachsenenbildung angeboten (vgl. APA 2015). Eine gute Zusammenarbeit herrscht zwischen Bund, Ländern und Sozialpartnern.
Im Rahmen von verschiedensten Einrichtungen, die z.B. in der KEBÖ (Konferenz der Erwachsenenbildung Österreichs) zusammengefasst sind, bzw. von Vereinen/NGOs, Bibliotheken oder Einzelinitiativen ausgehen, finden eine Vielzahl von Angeboten und Projekten zur Unterstützung der Lesekompetenz statt. Diese umfassen Basisbildung/Alphabetisierung, Sprachkurse (Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als Zweitsprache) oder Literaturvermittlung für Erwachsene.
Die Herausforderung bleibt: Wie kann Literacy nach Abschluss von elementarer formaler Ausbildung weiter gefördert werden (vgl. Hanemann 2015, S. 2); wie kann > non-formale und > informelle Bildung noch stärker dazu beitragen – z.B. Bibliotheken oder Literaturhäuser (aktiv, nicht nur im Bereitstellen von Literatur oder Veranstaltungen), der Arbeitsplatz, informelle Angebote der Erwachsenenbildung –, wie kann „Literacy“ als Aufgabe sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche verankert werden?
Auswirkungen von nicht ausreichender und hoher Lesekompetenz bei Erwachsenen5
Wenn es um die Konsequenzen von (niedriger) Lesekompetenz bei Erwachsenen geht, ist eine differenzierte Betrachtungsweise angebracht. Viele Menschen mit geringer Lesekompetenz sind sehr gut in ihrem sozialen Umfeld integriert, haben lesekompetente Unterstützung und stehen mit beiden Beinen im Leben. Vielerorts ist es erst die Stigmatisierung, die Benachteiligung oder Vorurteile, welche Menschen mit niedriger Lesekompetenz entgegengebracht werden, die vieles erschweren.
Nicht ausreichende Lesekompetenz
- Persönliche Ebene: Nicht (gut) Schreiben und Lesen zu können bedeutet oftmals, ein Leben zu führen, das in hohem Maße von Angst vor Blamage, Unsicherheit und Scham geprägt ist. Häufig erledigen Personen aus dem engsten Umfeld schriftliche Angelegenheiten. Persönliche Abhängigkeiten entstehen und bestehen oft über Jahre. Der Wegfall dieser persönlichen Ressourcen, beispielsweise durch Scheidung oder Tod, bedeutet für Betroffene einen hohen psychischen Druck.
- Ein weiterer bedenklicher Indikator ist der sogenannte NEET-Indikator bei Jugendlichen („Not in Education, Employment or Training“). Über 8 % der 16- bis 24-Jährigen sind weder in (Aus-)Bildung, noch in Beschäftigung, noch in Weiterbildung oder einer Schulung. Das sind österreichweit rund 75.000 Jugendliche. Dies und der frühzeitige Schulabbruch (early school leaving) korreliert mit niedrigeren Lese- und Schreibkompetenzen und erhöht das Risiko für gesellschaftlichen Ausschluss (vgl. Kastner 2013, vgl. Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur 2012).
- Erwerbstätigkeit und Arbeitsmarktintegration: Niedrigere Lesekompetenz findet sich vermehrt bei Arbeitslosen bzw. Erwerbslosen. Oftmals arbeiten Personen mit geringer Lesekompetenz in Hilfstätigkeiten mit wenig Möglichkeit zur Weiterbildung oder erfahren Benachteiligungen beispielsweise bei der Arbeitsmarktintegration. Andere wiederum sind handwerklich begabt und kompetent, besitzen möglicherweise einen eigenen Betrieb, in dem ihre Bezugspersonen schriftliche Angelegenheiten erledigen.
- Armut: Einkommensschwache Personen weisen, statistisch gesehen, eine schlechtere Lesekompetenz auf, sind armutsgefährdeter und von Arbeitslosigkeit häufiger bedroht.
- Status und höchster formaler Bildungsabschluss: Die soziale Herkunft (z.B. der höchste Bildungsabschluss der Eltern) sowie der eigene sozio-ökonomische Status hängen mit der Lesekompetenz zusammen. Bildungsbenachteiligung wird zumeist vererbt, u.a. dadurch, dass Eltern die Sprach- und Leseentwicklung ihrer Kinder nicht fördern können.
- Alter: Vor allem ältere Personen ab 55 Jahren weisen häufig niedrige Lese- und Schreibkompetenzen auf.
- Weiterbildung und Kompetenzerwerb: Andere Skills wie fachliche Fortbildung, Gesundheitskompetenz oder der Umgang mit digitalen Technologien können schwerer erlernt werden. Um am lebenslangen Lernen teilhaben zu können, braucht es zumindest für den Alltag ausreichende Lese- und Schreibkompetenzen.
- Gesundheit: Lesekompetenz und Gesundheit korrelieren stark miteinander. Menschen mit niedriger Lesekompetenz weisen ein höheres Krankheitsrisiko auf und können mit den Anforderungen aus dem Gesundheitssystem alleine oft nur unzureichend umgehen. Ein schlechter Gesundheitszustand kann umgekehrt dazu führen, dass Lese- und Sprachkompetenzen nicht weiter trainiert werden können oder verkümmern.
- Die Entscheidungsbildung auf politischer, medizinischer und sozialer Ebene aufgrund von begrenztem Zugang zu Wissen, Bildungsmöglichkeiten und Information ist oftmals erschwert.
- Volkswirtschaftlich gesehen bewirken niedrige Lesekompetenzen einer Gesellschaft mit all ihren möglichen negativen Folgen einen Nachteil für die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes.
Positive Zusammenhänge – hohe Lesekompetenz
- Alltagslesen (z.B. Zeitung, Emails) fördert die Lesekompetenz.
- Buchbesitz im Haushalt wirkt sich positiv auf die Lesekompetenz aus.
- Höhere Lesekompetenz geht mit einer verstärkten Teilnahme an Weiterbildung einher und wirkt positiv auf die berufliche Situation.
- Die Häufigkeit und Geläufigkeit des Umgangs mit IKT (Informations- und Kommunikationstechnologien) begünstigt die Lesekompetenz und umgekehrt.
- Gesundheitskompetenz bedeutet, dass man medizinische Informationen z.B. im Internet suchen, filtern und die Quellen beurteilen sowie ärztlichen Ausführungen folgen kann. Personen mit hoher Lesekompetenz weisen im Vergleich zu Menschen mit niedriger Lesekompetenz eine signifikant bessere Gesundheitskompetenz auf (vgl. Pelikan et al. 2012).
- Gesellschaftliche > Partizipation: Solide Lesekompetenz ermöglicht es, leichter an der Gesellschaft teilzuhaben und Möglichkeiten zu nutzen, die eigene Lebenssituation zu verbessern.
- Hohe Schriftsprachkompetenz fördert ganz allgemein „Kritik-, Urteils-, Reflexions- sowie Entscheidungsfähigkeit“ (Bundesministerium für Bildung und Frauen 2014, S. 8) der Bürgerinnen und Bürger und trägt zu Demokratie und politischem Frieden bei.
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2 „Programme for the International Assessment of Adult Competencies“ (Programm zur empirischen Erfassung und Analyse von Schlüsselkompetenzen im Erwachsenenalter), erstmalige Beteiligung Österreichs an dieser Erhebung 2011/2012. Die Erhebung des Kompetenzniveaus der Erwachsenen zwischen 16 und 65 Jahren unter¬suchte Lesekompetenz, alltagsmathematische Kompetenz sowie technologiebasierte Problemlösekompetenz und erfolgte nur auf Deutsch sowie mittels gedruckter und digitaler Aufgabenbeispiele (vgl. zur Methodik OECD 2013).
3 Der durchschnittliche Anteil an Personen mit niedriger Lesekompetenz in den teilnehmenden OECD-Ländern beträgt 16,7 %. Die höchsten Anteile finden sich in Zypern (29,5 %), Italien (28,3 %) und Spanien (28,3 %). Japan (6,1%) und Finnland (10,6 %) schneiden am besten ab. Im internationalen Vergleich liegt Österreich mit einem Anteil von 17,1% im Mittelfeld der an PIAAC teilnehmenden Länder.
4 Vgl. zu den Lesekompetenzstufen nach der OECD Böhnisch & Reif 2014, S. 227.
5 Vgl. zu diesem Abschnitt ausführlich und mit Prozentangaben Böhnisch & Reif (2014, S. 233ff.); vgl. auch European Commission (2012).