Status
Kinder verlassen die Volksschule nicht als „fertige“ Leser und Leserinnen. Die Lesekompetenz muss auch in den weiterführenden Schulen bewusst über mehrere Kompetenzstufen weiterentwickelt und begleitet werden. Die Gruppe der jugendlichen Leserinnen und Leser ist eine sehr heterogene Gruppe, sowohl was Lesemotivation, Lesekompetenz als auch Interessen und Leseerfahrungen betrifft. Das Zusammenspiel von Lesekompetenz und Lesemotivation ist Voraussetzung für Leseverstehen und Lesehäufigkeit. Mit der Lesekompetenz steigt die Freude am Lesen und an der Entwicklung eines Lese-bzw. Mediennutzungsverhalten, das individuelle und berufliche Interessen fördert. Lesemotivation und Leseintention bzw. Leseinteresse verschwinden aber, sobald die Leseflüssigkeit und das Leseverstehen für ein zufriedenstellendes Leseerlebnis nicht ausreichen. Mit der Lesekompetenz steigt die Motivation zu lesen und es entwickeln sich Interessen.Der etwaige Verlust an Lesemotivation findet zumeist zwischen den zwei Lesekrisen im Alter von 8-10 Jahren und 12-14 Jahren statt (vgl. Garbe 2003, S. 79). Beim ersten Leseknick spielen Faktoren wie der Übergang von kurzen zu längeren Texten, mehr Text und weniger Bilder, weniger Vorlesen zugunsten von Selber-Lesen-Müssen eine Rolle. Maßgebliche Gründe dafür sind bis zu diesem Zeitpunkt nicht ausreichend erworbene Lesefähigkeiten (vgl. Rosebrock & Nix 2014, S. 8). In diesem Alter verlieren erstmals mehr Buben als Mädchen die Freude am Lesen. Bei der zweiten Lesekrise zwischen 12 und 14 Jahren, also am „Ende der Kindheit“, wird deutlich, dass die Jugendlichen ihre (Lese-)Interessen ändern oder überhaupt das Lesen einstellen (vgl. Graf 2007, S. 102f.). Sie wollen sich einerseits von Themen und Erwartungen von Elternhaus und Schule abgrenzen, andererseits erleben sie eine Neuorientierung in Richtung digitales Lesen, Computerspiele, Sachtextlesen und entwickeln eine andere Mediennutzung. Soziale Medien wie beispielsweise WhatsApp, Facebook, Instagram, YouNow oder YouTube gewinnen an Wichtigkeit.
Gleichzeitig findet sich in dieser Altersklasse auch eine kleine Gruppe von Viellesern und – leserinnen, die ein breites Spektrum von Leseangeboten nutzen und über entsprechende Lesestrategien verfügen. Gute Leserinnen und Leser, also jene mit einer Leseflüssigkeit, die ein schnelles Erfassen von Zusammenhängen erlaubt, haben Freude am „Erlesen“ von spannenden Erzählverläufen, können rasch Information entnehmen und Texte kritisch und differenziert betrachten. Sie lesen gerne, lesen häufiger und entwickeln Leselust und Lesekompetenz immer weiter. Wer ungern liest und Schwierigkeiten hat, erlebt das „Abenteuer im Kopf“ nicht oder kann nur Texte lesen, die nicht den Erwartungen nach Unterhaltung, Spannung und Information entsprechen. Die Spirale von Leselust und Lesekompetenz bzw. Unlust und Defiziterfahrung bewegt sich je nach Können nach oben oder nach unten.
Junge Leserinnen und Leser entwickeln verschiedene Arten des Lesens – Lesemodi (Philipp 2008, S. 15) – neben der Pflichtlektüre sind folgende Formen bekannt: Instrumentelles Lesen, Partizipatorisches Lesen, Konzeptlesen, Lesen zur diskursiven Erkenntnis, Intimes Lesen und Ästhetisches Lesen.
Das veränderte Mediennutzungsverhalten bedeutet eine Herausforderung für die Weiterentwicklung der Lesefreude und der Lesekompetenz. „Lesen“ wird häufig von Jugendlichen und auch von Erwachsenen als „(literarisches) Buchlesen“ verstanden.
Das Lese- und Mediennutzungsverhalten der Gleichaltrigen, der Peers, gewinnt im jugendlichen Alter an Bedeutung. Die Berücksichtigung dieses Aspektes wäre eine Chance, Jugendliche zum Lesen zu „verlocken“ (vgl. Nickel 2004, 2006). Deutlich geschlechtstypische Verhaltensweisen und „Lesarten“ dienen in der Phase der Identitätsentwicklung auch zur Abgrenzung gegenüber dem jeweiligen anderen Geschlecht. Ähnliche Mechanismen der Abgrenzung werden auch gegenüber dem kindlichen Lesen und gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen wirksam. Das männliche Lesen definiert sich teilweise über eine Abwertung von fiktionalen Texten und einer deutlichen Sachtext Präferenz. Man liest und nutzt bestimmte Medien, um dazuzugehören und mitreden zu können.
Der Wendepunkt am Ende der Sekundarstufe I mit der Entscheidung für eine berufsbildende Schule, Berufsbildung oder den Verbleib in der allgemeinbildenden höheren Schule bzw. der Wechsel in eine berufsbildende höhere Schule verlagert das Interesse auf andere Themen und verändert damit das Leseverhalten und die Mediennutzung. Die Beschäftigung mit Sach- und Fachtexten bekommt zwangsläufig mehr Bedeutung und dadurch wird die Heterogenität der Themen größer. Diese Heterogenität zeigt sich auch in den Vorlieben im Bereich des fiktionalen Lesens. Hier reicht die Bandbreite von > Fanfiction bis zu klassischer und moderner Literatur.
Internationale Studien wie > PIRLS und > PISA zeigen einen relativ konstanten Anteil an Risikoleserinnen und -leser (ca. 20 %), der einem kleinen Anteil an Spitzenlesern und Spitzenleserinnen (ca. 5 %) gegenübersteht. Deutliche Unterschiede gibt es in der Risikogruppe zwischen Mädchen (ca. 13 %) und Buben (ca. 26 %). Fehlende Automatisierung der grundlegenden Lesekompetenz wie z.B. Wort- und Satzerkennung auf Textebene (Rosebrock & Nix 2011) führt zu funktionalem und sekundärem Analphabetismus. „PISA 2009 zeigt, dass Migranten und Migrantinnen in den Risikogruppen in Österreich überrepräsentiert sind. Einer kleinen Gruppe von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gelingt es jedoch, Spitzenleistungen zu erbringen“ (Schwantner & Schreiner 2010).
Zahlreiche Jugendliche stehen vor der Herausforderung, in kurzer Zeit Deutsch lernen zu müssen und gleichzeitig die bildungssprachlichen Kompetenzen in allen Fächern zu entwickeln. Ihre gelebte Mehrsprachigkeit braucht Wertschätzung.
Lesekompetenz und Lesemotivation sind zwei parallel weiterzuentwickelnde Bereiche. Einerseits müssen die Jugendlichen mehr und komplexere Texte lesen und verstehen können, andererseits brauchen sie Vorbilder und attraktive Angebote, um ihre individuellen Lesehaltungen und Lesepräferenzen weiterentwickeln oder sogar neu entdecken zu können. Nur so können sie einen für sie attraktiven Lesehabitus entwickeln, der sie in das Erwachsenenalter hineinträgt und sie zu (vor)lesenden Eltern macht.