Wege
Eine diversitätsbasierte und partizipationsorientierte Leseförderung muss gesellschaftliche Teilhabe aller in Österreich lebender Menschen ermöglichen, soziale Ungleichheiten ausgleichen und Gleichberechtigung herstellen, um so einer Wissens- und Chancen-Segregation unserer Gesellschaft entgegenzuwirken.
Die Verwirklichung oben genannter Ziele erfordert vernetztes Arbeiten vieler Institutionen und Disziplinen auf infrastruktureller, finanzieller, bildungsinstitutioneller (organisa-torisch-administrativer), sozialer, politischer und wissenschaftlicher Ebene. Nicht nur die Schule, sondern auch Gesundheitswesen, Sozialwesen, Vereine und Communities etc. müssen als Akteure zur Förderung von Lesekompetenzen und Leseaktivitäten wahrgenommen werden.
Wesentliche Elemente dazu sind:
- Diversitätsbasierte Leseförderung statt Defizitorientierung: Leseförderung darf nicht nur dort erfolgen, wo sogenannte Defizite festgestellt werden, sondern muss sich in allen Bereichen an den individuellen Voraussetzungen, Zielen und Bedürfnissen orientieren.
- Differenzierung und Individualisierung: Um Lesefertigkeiten, Lesemotivation und die Verwirklichung persönlicher Ziele zu fördern, muss eine diversitätsbasierte Leseförderung die Vermittlung von Lesefertigkeiten, -strategien und -zugängen an die individuellen Ressourcen und Ziele, das Umfeld und die Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten einzelner Individuen anpassen. Zudem sollen Leseförderangebote v.a. den Aspekt der Selbstautonomie und der Erreichbarkeit persönlicher Ziele durch Einsatz schriftbezogener Fertigkeiten in den Vordergrund stellen. Positive Leseerlebnisse ohne Leistungsdruck sind zu ermöglichen.
- Sensibler Sprachgebrauch und Ansprache von Zielgruppen: Bei der Wahl von Begriffen zur Bezeichnung bestimmter Personen(gruppen) sind defizitorientierte, abwertende und zu wenig differenzierte Sichtweisen zu vermeiden, um Abwertungen und Stigmatisierung nicht weiter zu verfestigen, z.B. „Kinder mit erhöhtem Förderbedarf“ statt der Bezeichnung „schwerstbehinderte Kinder“ (lt. BGBL 104-I, 2015). Defizitorientierte Bezeichnungen wie „sekundäre bzw. funktionale Analphabeten“ oder „Computerverweigerer“, die „Unfähigkeit“ oder „Unwilligkeit“ implizit oder explizit unterstellen, sind grundsätzlich zu vermeiden. Das ist insbesondere auch bei der Benennung von Kursen und Förderangeboten zu berücksichtigen. Als Alternative zu defizitorientierten Formulierungen ist die Beschreibung von Zielgruppen mit Bezug auf ihre tatsächlichen Lern- und Bildungsziele und ihre konkreten Bedürfnisse und Lebenssituationen zu empfehlen (z.B. Kursbeschreibungen wie „Besser lesen und schreiben können“ oder „(wieder) einmal ein Buch lesen“, „Internet/Computer leicht gemacht“). Positive lernziel- und interessensorientierte Beschreibungen von Leseförder- und Bildungsangeboten anstelle von defizitbasierten Bezeichnungen müssen sich in allen Sektoren des Bildungswesens etablieren, um Ängste und Hemmschwellen abzubauen und Zielgruppen entsprechend ihren Zielen und Motivationen ansprechen zu können.
- Politische Verantwortung: Gesamtgesellschaftlich geht es um Maßnahmen des Nachteilsausgleichs zur Vermeidung und Verfestigung von Armutslagen und zur Verhinderung gesellschaftlicher Desintegration und gesellschaftlicher Destabilisierung. Diese Aufgabe darf nicht einzelnen Personen (z.B. Eltern, Lehrerinnen und Lehrern, Schulleiterinnen und -leitern) aufgebürdet werden, sondern ist als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Auftrag politischer Akteure und Institutionen zu verstehen.
- Forschung und Vernetzung: Wesentliches Ziel von partizipationsfördernden Lesefördermaßnahmen ist es, alle Akteure zu identifizieren, die zur Überwindung von Hürden beitragen können sowie eine bessere Datenlage für benachteiligte Personen und Gruppen wie auch Diagnose- und Fördermaterialien zu schaffen. Hierfür bedarf es einer institutionsübergreifenden Strategie der Vernetzung zwischen Forschung und Politik und der Bereitstellung finanzieller und struktureller Ressourcen, damit Erkenntnisse auch umgesetzt werden.
- Aktualisierung von Curricula, methodischen Ansätzen und Materialien sowie von Aus- und Weiterbildungen für Lehrende: Zwischen der Vermittlung basaler Lesekompetenzen im Erstleseunterricht und der Vermittlung höherer Lese- und Textkompetenzen besteht noch so manche didaktische Lücke, die durch Vernetzung und Erfahrungsaustausch zwischen einzelnen Bildungssektoren auszugleichen ist. Durch verschiedene Formen des Gebrauchs von Informations- und Kommunikationstechnologien, des Internets und > Social Media entstehen „neue“ Formen von Literalität. Die Förderung der Handlungsfähigkeiten in diesen neuen Formen der Literalität muss daher in allen Sektoren unseres Bildungswesens, v.a. auch in der Ausbildung von Lehrkräften fest verankert werden.
- Ein österreichweites Konzept für eine partizipationsfördernde Leseförderung muss Maßnahmen für Lese(förder)angebote v.a. an den Schnittstellen zwischen Bildungsinstitutionen und Übergängen zwischen Familie, Ausbildung und Erwerbstätigkeit anbieten. Für Menschen in Phasen der Veränderung (z.B. durch Todesfall, Scheidung, Schulabbruch, Pensionierung, Arbeitslosigkeit, längerer Krankheit u.ä.) müssen Angebote so gestaltet werden, dass sie Menschen bei der Bewältigung neuer Situationen unterstützen und gesellschaftliche Teilhabe gewährleisten und erhalten. Dazu ist die Zusammenarbeit von möglichst vielen Institutionen und sozialen Einrichtungen notwendig. Den Zielgruppen müssen Angebote auch außerhalb von Bildungsinstitutionen (z.B. Krankenhäuser, Seniorenheime, Arbeitsamt, Vereine und Communities etc.) geboten werden.
- Ein institutionsübergreifender Austausch zwischen Schule und Institutionen, die Kurse in der Basisbildung, Alphabetisierung, der erwachsenengerechten Erweiterung der Lese- und Schreibkompetenzen und Deutsch als Zweitsprache für Erwachsene anbieten, ist notwendig. Themen dieses Austausches sind neben methodisch-didaktischen Fragen und der Gestaltung von Unterrichtsmaterialien v.a. auch der Erfahrungsaustausch. In Form von Tagungen, gemeinsamen Fortbildungen und Austauschforen für alle Akteure in schulischen Institutionen und der Erwachsenenbildung sollen Kompetenzen zur Prävention und Bearbeitung von Schwierigkeiten in der Entwicklung literaler Fertigkeiten ausgetauscht und verfügbar gemacht werden.
- > Empowerment und Erweiterung der Handlungskompetenz: Ein Bewusstsein für die Bedeutung des Lesens ist nicht nur bei politischen Verantwortungsträgern und Handelnden in Bildungskontexten, sondern v.a. auch bei den Menschen selbst zu fördern, um Partizipation zu ermöglichen, persönliche Verantwortung und Freiheit wahrzunehmen und Handlungsspielräume erweitern zu können.
- Generationenübergreifende Leseförderung: Ungenütztes Potenzial besteht auch noch im Bereich von generationenübergreifenden Formen des Lesens: z.B. Lesepatinnen und Lesepaten in Schule und Kindergarten, Jugendliche als Coaches für Digital Literacy für ältere Personen u.a.m.
- Abbau von Barrieren sozialer, räumlicher und kommunikativer Art, durch die der Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe erschwert oder verwehrt wird. Hier geht es nicht nur um die barrierefreie räumliche Gestaltung von z.B. Bibliotheken und Bildungseinrichtungen, sondern v.a. auch um den Abbau von Kommunikations- bzw. Informationsbarrieren (z.B. barrierefreie bzw. mehrsprachige Websites, > „Leichte Sprache“ ). Nicht zuletzt muss es hier um den Abbau sozialer Schwellen und Barrieren gehen, um gesellschaftliche Segregation zu verringern. Damit verbunden sind Maßnahmen zur Sensibilisierung für verschiedene Arten von Barrieren und der Ausbau von Fortbildungsmöglichkeiten in Bezug auf soziale, räumliche oder kommunikative Barrierefreiheit im Bildungsbereich.