Status: diversitätsbasierte und partizipationsorientierte Leseförderung
Grundlage einer umfassenden Leseförderung ist die Gestaltung von Rahmenbedingungen, die Lebensumstände, persönliche Interessen, zur Verfügung stehende Ressourcen etc. so beeinflussen, dass alle in Österreich lebenden Menschen Möglichkeiten haben, Lesefertigkeiten zu erwerben, zu erhalten und zu verbessern und Zugänge zu angemessenen Leseangeboten zu finden. Ziel der Arbeitsgruppe „Diversität und Partizipation“ war die Identifikation von partizipationsfördernden bzw. -hemmenden Faktoren als Grundlage der Konzeption umfassender und nachhaltiger Lesefördermaßnahmen.Im Zuge dieser Arbeit wurden mehr als zwanzig Faktoren festgehalten, die die Zugänglichkeit zu Leseangeboten und die Partizipation an Bildungsangeboten beeinflussen. Folgende Faktoren gesellschaftlicher Diversität bilden die Grundlage für die Wahrnehmung, Wertschätzung und Berücksichtigung von Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten in der Leseförderung und Förderung von Partizipation:
- Alter (Lebensalter vs. Entwicklungsalter)
- Genderaspekte
- Lebenssituation, alltägliche Anforderungen im Privaten und Beruflichen, Erwerbstätigkeit, hohes Alter, Zusammenleben der Generationen
- individuelle Repertoires literaler Praktiken, Schul-/Lernerfahrungen, persönliche Zugänge zu Lesen und Schrift
- persönliches Repertoire an sprachlichen Fertigkeiten in einer oder mehreren Sprachen, v.a. auch in Kontexten von Migration und Mehrsprachigkeit
- persönliche Interessen, Motivation und Ziele des Lesens und Lesenlernens
- finanzielle/ökonomische Ressourcen, die Auswirkungen auf die Zugänglichkeit von Leseangeboten und Bildungsteilhabe haben
- kognitive Entwicklung und Entwicklungsmöglichkeiten
- unterschiedliche Entwicklungspotenziale, -perspektiven und -wünsche sowie verschiedene Begabungen, bzw. Formen der Entwicklung von Begabungen
- gesundheitliche Situation, akute und chronische Krankheiten und dadurch bedingte Einschränkungen
- Beeinträchtigungen / Disabilities / Förderbedarf im Bereich Sinnes-, Körper-, Lern„behinderungen“ u.a., die in sehr verschiedenartigen, unterschiedlich schwerwiegenden und komplexen Formen auftreten können, wobei hier besonders auf die Verwendung nicht-stigmatisierender Begriffe zu achten ist, z. B. Kinder „mit erhöhtem Förderbedarf“ statt der veralteten Bezeichnung „schwerstbehinderte Kinder“ (lt. BGBL 104-I, 2015),
- rechtlicher Status: z. B. „Kind“ vs. „Erwachsener“, „erziehungsberechtigt“, „schulpflichtig“ bzw. „kindergartenpflichtig“, Rechtsfähigkeit, Geschäftsfähigkeit, Aufenthaltsstatus, politische Teilhabe/Wahlrecht
- zeitliche Ressourcen (z. B. Arbeitszeiten, Freizeit, Zeiten, zu denen Leseangebote zugänglich sind)
- Medienkonsum, Zugang und Gebrauch von Informations- und Kommunikationstechnologien und Repertoire an technologiebezogenen Formen des Lesens und Lernens
- Infrastruktur des unmittelbaren Wohnortes, die Auswirkung auf die individuelle Mobilität hat (z. B. öffentlicher Verkehr, Erreichbarkeit von Schulen, Aus- und Fortbildungsangebote) und generelle regionale Unterschiede (Land – Ballungszentren, Einzugsbereich von Bildungsinstitutionen, Bibliotheken, Beschäftigungsmöglichkeiten, soziale Einrichtungen)
- persönlicher Bewegungsradius, räumlicher Aktionsradius, Mobilität (mehr oder weniger selbstbestimmt, ältere Personen, Personen mit Betreuungspflichten, Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, Häftlinge, Bewohnerinnen und Bewohner ländlicher Gegenden mit beschränkter Infrastruktur)
- gesellschaftliche Mobilität und Migration, Veränderung des Wohn- und Arbeitsorts, berufliche Mobilität, Notwendigkeit der Mobilität zur Fortsetzung von Bildungswegen
- Rahmenbedingungen und Ressourcen in Bildungsinstitutionen (Kindergarten, Schule, Erwachsenenbildung), die zur Entwicklung und Förderung von Lesefertigkeiten und für individuelle Förderung zur Verfügung stehen
- Grad der Sensibilisierung pädagogischer Fachkräfte in der Erkennung von Schwierigkeiten im Leseerwerb und Qualifikation der Lehrkräfte im Umgang mit verschiedenen Dimensionen von Diversität
- Selbstmanagement, Möglichkeiten zu Autonomie und Selbstbestimmung von Privat- und Berufsleben und Bildungswegen
- soziale Kontakte, kulturelle Aktivitäten und Teilhabe am öffentlichen Leben
- individuelle Reaktionen und persönliche Strategien im Umgang mit sozialer Ungleichheit, Ausgegrenztheit, verschiedene Gründe und Formen des Nicht-Partizipierens
- Bildungsbiografie, Bildungsabschlüsse, Erfahrungen im Bildungswesen und persönliche positive und negative Lernerfahrungen (auch in Formen non-formalen und > informellen Lernens ).
Eine Auseinandersetzung mit Einflussfaktoren auf den Entwicklungsstand von Lesefertigkeiten, Art und Ausmaß von Leseaktivitäten bzw. Leseförderbedarf zeigt, dass es sich in der Regel nicht um einzelne, bedingende Faktoren für geringe Lesefertigkeiten bzw. Leseaktivitäten handelt und dass man nicht von einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen ausgehen kann. Variablen, die üblicherweise unter dem statistischen Konstrukt „sozioökonomischer Status“ genannt werden, stehen sicher in Zusammenhang mit Lesekompetenzen. Tatsächlich sind aber eine wesentlich höhere Zahl von Faktoren wie Gender, Herkunft, Sprachen, Gesundheit, Mobilität und Behinderung(en), regionale und soziale Mobilität für die Ausbildung und Weiterentwicklung von Lesefertigkeiten relevant. Die meisten dieser Faktoren sind als solche nicht direkt beeinflussbar, dennoch müssen sie in der zielgruppengerechten Gestaltung von Maßnahmen zur Gewährleistung von Chancengleichheit im Bildungswesen und im Leseerwerb wahrgenommen und explizit genannt werden.
Folgendes ist bei der Gestaltung geeigneter Maßnahmen zur Förderung des Lesens zu beachten:
- Für manche Zielgruppen (z. B. alte Menschen, Early School Leavers / Schulabbrecherinnen und Schulabbrecher, Home Schoolers, Menschen mit verschiedenen Formen körperlicher oder kognitiver Beeinträchtigung u.a.m.) liegen derzeit in Österreich noch kaum Daten zu Leseverhalten und Lesekompetenzen vor, um diese Menschen gezielt erreichen und fördern zu können. Nach wie vor ist es vorherrschende Praktik, diese Zielgruppen mittels defizitorientierter Begriffe anstelle von lebensweltlich orientierten oder interessensorientierten Beschreibungskategorien zu benennen. Sie sind daher auch vielfach schwer anzusprechen, v.a. dann, wenn sie nicht in institutionelle Bildungs¬prozesse eingebunden sind und ihre Bedürfnisse daher kaum bzw. gar nicht bekannt bzw. „sichtbar“ sind.
- Besonders für Personen mit einem Bildungsabschluss unterhalb von Matura oder gleichwertigen Abschlüssen (BHS/AHS) sind ausgleichende, niederschwellige Maßnahmen notwendig, da im Vergleich zu höheren Bildungsgruppen hier markante Kompetenzunterschiede verzeichnet wurden (vgl. Statistik Austria 2014: PIAAC 2011/12, 3.2G29, 3.2G34).
- Die Schulbildung der Eltern korreliert zwar statistisch in den meisten Fällen mit der Höhe der Lesekompetenz ihrer Kinder, der Bildungsstand der Eltern ist aber meist keine direkt zu beeinflussende Variable. Daher müssen Unterricht und Förderangebote für Kinder – unabhängig von Bildungsabschlüssen und sozioökonomischem Status der Eltern – so gestaltet werden, dass jene Nachteile ausgeglichen werden, die durch Bildungsstand der Eltern, schwaches Familieneinkommen und soziale Marginalisierung entstehen.
- Aufgabe von großangelegten internationalen Leistungsvergleichsstudien ( > PISA, > PIRLS, > PIAAC) ist es, statistische Aussagen über größere Bevölkerungsgruppen zu ermöglichen, sie eignen sich aber nicht dazu, das Potential einzelner Individuen zu erfassen. Für eine ganzheitliche und diversitätsbasierte Leseförderung ist es aber notwendig, individuelle Ressourcen, Ziele und Interessen zu erfassen. Zu bedenken ist außerdem, dass Verfahren der Diagnose bzw. der Leistungsfeststellung im Allgemeinen nur in der Unterrichtssprache konzipiert sind und Fertigkeiten und Kompetenzen in anderen Sprachen nicht erfasst werden können.
- Eine Grundlage für einen gelingenden Leseerwerb ist eine umfassende, solide Sprach(en)bildung in der Unterrichtssprache Deutsch ebenso wie in den Familiensprachen. Dazu sind die Förderung des muttersprachlichen Unterrichts und eine allgemeine Sensibilisierung für Sprache(n) und Mehrsprachigkeit in den Schulen notwendig.
- Um ein flächendeckendes Angebot an Lesemöglichkeiten für alle Altersstufen, Regionen und Bevölkerungsgruppen bieten zu können, bedarf es einer empirischen Bestandsaufnahme von Leseaktivitäten, Leseinteressen und Gründen des (Nicht-)Lesens verschiedener Zielgruppen. Die Datenlage ist zu verbessern, um entsprechende Fördermaßnahmen evidenzbasiert gestalten zu können.
- Im schulischen Bereich ist für Schülerinnen und Schüler mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen bzw. Behinderungen beispielsweise nur rudimentär Datenmaterial zum Thema Lesen vorhanden. Diese Zielgruppe ist daher statistisch zu wenig erfasst. Darüber hinaus gibt es zu wenig Informationen, welche physischen und/oder psychischen Herausforderungen beim Lesen lernen gemeistert werden müssen, um zumindest basale Lesekompetenzen als Grundlage eines selbstbestimmten Lebens zu erreichen.
- Großangelegte Leistungsvergleichsstudien (z. B. > Bildungsstandards ) und Diagnosematerialien beruhen in der Regel auf Standards, Zielstufen und Skalierungen, die weiter fortgeschrittene Kompetenzen auf früher erworbenen Erwerbsstufen basierend modellieren. Die Entwicklung von Kompetenzen wird als lineares Durchlaufen aufeinander aufbauender Phasen und Stufen dargestellt. Im Sinne eines erweiterten Lesebegriffs (siehe oben) ist ein gleichberechtigtes Nebeneinanderstellen verschiedener Formen des Lesens (Dönges 2007) an Stelle einer linearen, hierarchischen Abstufung zu bevorzugen. Gerade in der Förderpädagogik könnte damit individuellen Lernstrategien und Entwicklungswegen, unterschiedlichen Begabungen bzw. Unterschieden in verschiedenen Leistungsteilbereichen besser Rechnung getragen werden als durch lineare Modelle.
- Leseförderung in der Schule muss diagnosegeleitet, auf wissenschaftlich fundierten, aktuellen Leseerwerbsmodellen basieren und individualisiert durchgeführt werden. Diagnoseinstrumente für Praktikerinnen und Praktiker liegen aber nicht in ausreichendem Ausmaß vor.
- Großangelegte Studien wie PISA und PIAAC gehen von einem monolingualen Lese- und Kompetenzbegriff aus. Sie sind daher für viele Menschen mit anderer Erstsprache und im Ausland durchlaufenen Bildungsbiographien nicht angemessen bzw. nicht durchführbar und daher auch nicht repräsentativ. Besonders für Jugendliche, die nicht (mehr) in Ausbildung sind, und für Erwachsene mit geringen Deutschkenntnissen stehen keine entsprechenden Daten zur Verfügung (vgl. Statistik Austria 2014).
- Da es zu manchen Zielgruppen nur wenige Daten zu Lesekompetenzen gibt, sind für diese auch bedarfsgerechte Materialien und Angebote zur Leseförderung nicht ausreichend vorhanden. Das betrifft v.a. die Möglichkeit, Lesefertigkeiten in den Herkunftssprachen und in anderen Sprachen als Deutsch zu entwickeln bzw. weiter ausbauen zu können.
- Unterschiede in Leseleistungen werden oft auch in Zusammenhang mit dem Begabungsbegriff gestellt. „Begabung“ wird aktuell stark mit „exzellenter Leistung“ assoziiert; als „begabt“ gelten Personen, die herausragende Leistungen erbringen. Der Begabungsbegriff ist aber wesentlich komplexer zu sehen. Begabung ist – entgegen verbreiteter Ansicht – keine statische, unveränderliche Größe. Ungünstige Bedingungen können die Entwicklung von Begabungen verhindern. Viel wichtiger aber ist, dass Begabungen durch anteil-nehmend-wertschätzende Zuwendung angestoßen oder in gewissem Rahmen erweitert werden können. Würden wir – ähnlich wie bei der Konzeption verschiedener Arten von Intelligenz – auch von verschiedenen Dimensionen von Begabung und darauf basierenden Interessen und Motivationen ausgehen, wäre dies ein wesentlicher Schritt in Richtung individualisierender Gestaltung von Leseerwerbs-prozessen und Leseförderangeboten sowie der Erreichung von Lesen(-Lernen)den mit „geringer Lesemotivation“.
- Pädagoginnen und Pädagogen sind in ihrer täglichen Arbeit in vielerlei Hinsicht gefordert und wurden auf die sich verändernden Anforderungen in der Praxis in ihrer Ausbildung vielfach nicht ausreichend vorbereitet. Es bedarf daher eines kontinuierlichen Angebots an Möglichkeiten zur Nachqualifizierung. Leseschwachen Kindern wird oft nicht genügend Zeit, Aufmerksamkeit und geeignete Leseförderung angeboten. Zur Entlastung von Lehrkräften sind zusätzliche Stundenkontingente für Team Teaching und Einzelförderung, räumliche Angebote zur individuellen Sprach- und Leseförderung, wie Schulbibliotheken u.ä. notwendig. Zu bedenken ist, dass besonders in der Grundstufe I wichtige Grundlagen geschaffen werden, die von einer einzelnen Lehrperson nur schwer aufgebaut werden können.
- Diskurse zu Lesen und Bildung sind stark von Defizitorientierung geprägt. Schwächere Leseleistungen sind vielfach mit Stigmatisierung und Schuldzuweisungen bzw. auf Seiten der Betroffenen mit Scham und Ausgrenzung bzw. sozialem Rückzug verbunden. Die Überwindung dieser defizitorientierten Sichtweise auf das Thema Lesen muss von allen Akteuren in Politik, Medien und Bildungsinstitutionen als Ziel wahrgenommen werden, um Menschen vor Stigmatisierung und Ausgrenzung zu schützen (vgl. z.B. Krenn 2013).
- Lesen und Lernen in jedem Alter ist auch ein eigenverantwortlicher Prozess. Lernen „across the lifespan“ ist gerade in einer modernen Wissens- und Informationsgesellschaft die Grundlage für Partizipation. Diese Aspekte sind in allen Sektoren des Bildungswesens noch nicht ausreichend etabliert. Außerdem fehlt ein vielfältiges Interventions- und Bildungsangebot für alle Altersstufen, das Lust am Ausprobieren weckt, Selbsterfahrung und persönliche Neuorientierung ermöglicht, neue Perspektiven eröffnet oder einfach Spaß am vielfältigen Lesen fördert.
- Zwar gibt es zahlreiche Materialien und Lehrbücher zur Vermittlung basaler Lesekompetenzen im Erstleseunterricht. Für die Vermittlung höherer Lese- und Textkompetenzen sowie alltagsrelevanter Handlungskompetenzen für das Leben in einer modernen Informationsgesellschaft besteht noch erheblicher Entwicklungsbedarf. Grundlage dafür ist eine verstärkte Zusammenarbeit von schulischen Pädagoginnen und Pädagogen sowie Lehrenden der Erwachsenenbildung. Durch Verschränkung von analogen und digitalen Formen des Lesens und die Einbeziehung der Interessen der Lernenden könnten motivierende Leselernmaterialien gestaltet werden.
- Lesen stellt eine wesentliche Ressource in Phasen der Veränderung der persönlichen Lebenssituation dar, wie etwa Schulaustritt bzw. -abbruch, Eintritt in das Erwerbsleben, Einwanderung, berufliche Veränderung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Scheidung, Tod von Angehörigen, Invalidität, etc. Gerade in diesen Phasen stehen Menschen oft vor neuen Herausforderungen, in denen das ihnen zur Verfügung stehende Repertoire schriftbezogener Handlungskompetenzen möglicherweise nicht (mehr) ausreicht, um der veränderten Situation gewachsen zu sein. Auch dazu sind noch zu wenige Informationen vorhanden, um zielgruppengerechte Angebote zu schaffen. Diese wären u.a. durch einen verstärkten Dialog zwischen Erwachsenenbildungseinrichtungen und Schulen bzw. zwischen Lehrenden in Schulen und in Angeboten zur > Basisbildung, v.a. aber durch einen Dialog mit den Betroffenen (z.B. über verschiedene soziale Institutionen) selbst zu forcieren. Ziel dieser Maßnahmen ist ein besseres Verständnis von (lese-) lernverhindernden und –fördernden Faktoren aus Sicht der Lernenden und die bedarfsgerechte Gestaltung von Bildungsangeboten.