Die Herkunft unserer Sprach-, Lese- und Schriftkultur

Im Deuten von Bildern, Zeichen, Gesten oder Klängen lesen wir unsere Welt. Die Entste­hung von Sprache gilt als zentraler Meilenstein in der Geschichte der Menschheit. Mit der damit verbundenen Entwicklung von Zeichensystemen werden Informationen und Erfahrungen austauschbar – diese Errungenschaft markiert den Beginn von Geschichte. 

Von Anbeginn an sind die Begriffe des „Schreibens“ und „Lesens“ von unserer Wirklichkeit in dynamischer Veränderung und in Austausch miteinander. Als eine der komplexesten und für die abendländische Geschichte bedeutungsvollste Ebene gilt die Entwicklung ei­ner vielfältigen Schrift- und Buchkultur, die unsere Geschichte des Denkens, Dichtens, Forschens und des kreativen Imaginierens von Wirklichkeit prägt. 

Über viele Epochen hinweg blieben diese Bereiche des Lesens und Schreibens kleinen ex­klusiven Kreisen vorbehalten. Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern um die Mitte des 15. Jahrhunderts markierte den Beginn einer neuen Phase, die im Verlauf der folgenden Jahrhunderte die Produktion und Verbreitung von Texten und Büchern fortwährend verbilligte und beschleunigte und schließlich in einer Bewegung mündete, die sich der Alphabetisierung der gesamten Bevölkerung verschrieb. Die Entwicklungen in den einzelnen Ländern verliefen sehr unterschiedlich. In Österreich markierte die Schulreform Maria Theresias von 1774 mit der Einführung einer allgemeinen Schulpflicht für Kinder von 6 bis 12 Jahren einen Meilenstein auf dem Weg zu literalen Basiskompe­tenzen aller Bevölkerungsschichten und zugleich die Einleitung eines Aufholprozesses von Frauen, deren Beteiligung an Bildungsmaßnahmen lange Zeit vernachlässigt wurde. 

Der mit der Schulpflicht verbundene breite Zugang zu Information und Bildung schuf die Grundlage für Demokratisierungsbewegungen in Europa. Individuelle Freiheitsrechte sind ohne breite Partizipation am politischen und gesellschaftlichen Leben und ohne frei­en Zugang zu Bildung und Information nicht denkbar. 

Die Erfindung und rasante Verbreitung audiovisueller Medien im 20. Jahrhundert hat die Medienlandschaft erneut massiv verändert und die Kultur des Lesens und Schreibens in neue Bezüge gesetzt. Die digitale Revolution, in der wir heute stehen, beschleunigt die Veränderungsprozesse in noch nie da gewesener Form, woraus sich Verunsicherungen und zugleich eine Fülle neuer Möglichkeiten und Herausforderungen ergeben. 

Die große kulturelle Aufgabe der Gegenwart ist es, eine lebendige Sprach- und Schrift­kultur zu erhalten und zu fördern, in der der kulturelle Reichtum der Vergangenheit be­wahrt, die aktuellen gesellschaftlichen Fragen aufgegriffen und die Herausforderungen der Zukunft zur Diskussion gestellt werden. Literalität prägt unsere Herkunft und be­stimmt unsere Zukunft. 

Die Lese- und Schriftwelten mit ihren Texten und Bildern stehen im Mittelpunkt der wei­teren Ausführungen eines Österreichischen Leseplans. 

 

 

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