Wege
Erforderlich sind Konzepte zu einer klar strukturierten didaktischen Umsetzung des Schriftspracherwerbs. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die individuelle Förderung der basalen Lesefertigkeit sowie in weiterer Folge auf die Erreichung einer adäquaten Leseflüssigkeit (Automatisierung) gelegt.
Der Erwerb der Schriftsprache stellt hohe Anforderungen an unsere Schulkinder. Sie müssen vom Sinngehalt der Sprache absehen und stattdessen die Aufmerksamkeit auf die formalen Eigenschaften des Wortes lenken. Durch die richtige, lautliche Abbildung des geschriebenen Wortes (Phonem-Graphem-Korrespondenz) unter Beachtung der korrekten Prosodie kommt es zu einem Abgleich im semantischen Lexikon. Erst jetzt erschließt sich dem Leseanfänger das Wort. Lesen- und Schreibenlernen ist demnach mehr als die Kenntnis der Buchstaben. Stellt man diesen Prozess im Sinne des produktiven Denkens unter den Fokus des Problemlösens, so muss die Leseanfängerin, der Leseanfänger Wissen über Buchstabenkenntnis, Buchstaben-Laut Korrespondenz, Wortschatz, semantische syntaktische Erwartungen und vieles mehr einsetzen. Außerdem müssen sie Hypothesen formulieren und diese in ständiger Wechselwirkung prüfen.
Somit stellen das Lesen- und Schreibenlernen das aktive Beteiligen der Akteure am Prozess und das Entwickeln von Strategien in den Vordergrund. Für den Unterricht bedeutet das, Kindern Raum für forschendes Lernen zu geben und ihren Entdeckergeist beim Problemlösen zu nutzen und sie dabei zu unterstützen.
Lesen- und Schreibenlernen ist im Wesentlichen ein Erwerb von Konzepten und Strategien – was, wie und wozu gelernt werden soll. Dazu müssen Kinder die Einsicht nehmen können in
- die Funktion der Schrift: Wozu liest/schreibt man? Welchen Zielen dient es?
- den Aufbau der Schrift: Was liest/schreibt man? Auf welche Elemente (Buchstaben, Laute, Silben, Wörter, Sätze) kommt es beim Lesen/Schreiben an?
- die Lese- und Schreibstrategien: Wie liest/schreibt man? Wie geht man konkret dabei vor? Wie kann man es lernen? (Glavic [o.J.], S. 2)
- die Tatsache, dass Schreiben kein Produzieren beliebiger Spuren ist, sondern mit Schrift Bedeutung festgehalten wird.
Ausgleich der unterschiedlichen Lesesozialisation durch kindzentrierte Unterrichtsgestaltung
Die Herausforderung im Anfangsunterricht besteht darin, dass sich Kinder in ihrem Entwicklungsalter in der ersten Klasse um mindestens drei Jahre unterscheiden (vgl. Largo 2010, S. 18f.). Das äußert sich darin, dass die Schülerinnen und Schüler bereits eine unterschiedliche Vorstellung von der Funktion der Schrift und der Struktur der Schriftsprache haben, sowie unterschiedlichste Sozialisationen in der Begegnung mit Schrift mitbringen. Schulanfängerinnen und Schulanfänger sind bereits geprägt von ihren Lebensgeschichten, ihren ganz verschiedenen Interessen und Neugierden und besitzen teilweise schon Selbstkonzepte von Lernen und Selbstregulationen oder haben auch sehr wenige bis gar keine Anhaltspunkte.
Dieser Anforderung kann eine kindzentrierte Unterrichtsgestaltung gerecht werden und das Einbeziehen der Lebensumstände erhöht die Motivation, sich mit Schrift auseinander zu setzen und regt zum selbstständigen Schreiben an. Es ist daher wichtig, dass die Lernwege individuell gestaltet werden und auf vorhandenem Wissen aufbauen. Das erfordert eine hohe Flexibilität der Lehrpersonen im Bereitstellen unterschiedlicher Möglichkeiten für diesen forschenden Prozess und die Sensibilität für „Nicht Passungen“, d.h. eine positive und konstruktive Fehlerkultur aufzubauen und Zugänge zu eröffnen statt Lernwege vorzuschreiben im Sinne der Qualitätssuche statt Fehlersuche. „Der konstruktive Umgang mit Irrtum und Fehler enthält innovative Komponenten und wird als Schlüsselqualifikation der Zukunft gesehen.“ (Hammerer 2001, S. 38)
Professionalisierung der Pädagoginnen und Pädagogen in der Kompetenz zur Lernstandserhebung, -feststellung und -begleitung, sowie in der praktischen Umsetzung entsprechend effektiver, individueller Lesefördermaßnahmen
Lehrerinnen und Lehrer werden einer Akzeptanz der sich ständig verändernden Rolle im individualisierten Schriftspracherwerb nicht umhinkommen. Weg von der Rezeptkultur zur selbstgesteuerten Professionalisierung ist einer der Grundpfeiler, die die Qualität von Unterricht ausmachen. Dabei sollte man sich nicht von Trends, Fibelhoheiten, Rezepten oder anderen Diktionen verunsichern lassen, sondern diese als Unterstützung für passende Lernphasen einsetzen, auf persönliche Professionalität zurückgreifen und Mündigkeit bewahren. Ein fundiertes Wissen über die Entwicklung von Schrift und das Verständnis, Lern- und Entwicklungsstände der Schülerinnen und Schüler im Sinne von „Diagnosekompetenz“ einzuschätzen, sind unabdingbar. Dem fundierten Wissen kommt eine Schlüsselfunktion zu.
Die Individualisierung ist dabei die Basis für einen kompetenzorientierten Unterricht, der
- die kognitive Aktivierung durch gut abgestimmte Aufgabenstellungen ermöglicht,
- das Vernetzen des neu Gelernten mit vorhandenem Wissen und Können unterstützt,
- das intelligente Üben fördert,
- die Suche nach geeigneten Anwendungssituationen anstrebt,
- das Eröffnen von Zugängen anstatt das Vorschreiben von Lernwegen im Auge hat,
- Lern- und Entwicklungsdokumentationen einfordert,
- vor allem bereits in den ersten Wochen die Kinder auf ihr Können beobachtet und Schwierigkeiten sofort begegnet, um einer Lernbarriere vorzubeugen.
Professionalisierung der Pädagoginnen und Pädagogen in der Kompetenz zur Lernstandserhebung, -feststellung und -begleitung, sowie in der praktischen Umsetzung entsprechend effektiver, individueller Lesefördermaßnahmen sind Voraussetzungen für eine gezielte Leseförderung. Auf dieser Grundlage werden Leseförderkonzepte erstellt, die laufend aktualisiert und dem individuellen Leistungsstand des Kindes entsprechen. Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung ist es außerdem unbedingt notwendig bei der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen allen zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern unabhängig von ihrem Fachgebiet Grundlagen der Leseerziehung sowie den praktischen Einsatz in ihrem Unterricht zu vermitteln.
Qualitätssicherung durch Evaluation der Maßnahmen im Bereich der Leseförderung im schulischen und außerschulischen Bereich
Wie bereits erwähnt sind Lernstandserhebungen, die individualisierende Beobachtung und Begleitung der Lernprozesse und eine individuelle, stärkenorientierte Förderdiagnostik als Grundlage haben, Antworten auf den Prozess des Entdeckens der Schrift. Möchte man der Unterschiedlichkeit der Kinder und ihren individuellen Zugängen zum Lesen und Schreiben gerecht werden, die Lernziele individuell anpassen und entsprechende effektive didaktische Settings schaffen, ist es unerlässlich, in regelmäßigen Abständen den Lernstand der Kinder zu erheben.
Eine stärkenorientierte Förderdiagnostik ist zum einen möglich durch Portfolios/Lern- und Entwicklungsdokumentationen sowie einer individualisierenden Beobachtung und Begleitung der Lernprozesse. Zum anderen benötigen die Lehrerinnen und Lehrer über ihre eigenen Beobachtungen und Wahrnehmungen hinaus Kenntnis über standardisierte Erhebungsverfahren sowie Wissen darüber, wie diese angewendet, ausgewertet und interpretiert werden, um entsprechende Fördermaßnahmen ansetzen und auch in weiterer Folge begleiten zu können.
Ein in Österreich weit verbreitetes und in der Klasse einfach einzusetzendes Verfahren zur Erfassung der individuellen Lesekompetenz ist das Salzburger Lese-Screening (SLS 1-4: Mayringer & Wimmer 2003). Das SLS verschafft Lehrerinnen und Lehrern einen ersten groben Überblick über die basale Lesekompetenz und bietet zudem die Möglichkeit, durch wiederholten Einsatz die Effektivität von Fördermaßnahmen zu überprüfen. Eine differenzierte Betrachtung der Lesefähigkeiten ist allerdings durch dieses Verfahren nicht möglich. Die Überprüfung der grundlegenden Fähigkeit des Dekodierens durch Erfassung der Fähigkeit, die Buchstaben in die entsprechenden Laute zu übersetzen und somit Wörter bzw. Pseudowörter laut vorzulesen, kann bspw. durch den Lesetest des Salzburger Lese- und Rechtschreibtests 2 (SLRT 2: Moll & Landerl 2010) erfolgen. Das Leseverständnis dagegen kann durch ein Verfahren wie zum Beispiel ein Leseverständnistest für Erst- bis Sechstklässler (ELFE 1-6: Lenhard & Schneider 2006) differenziert für die Wort-, Satz- und Textebene erhoben werden.
Durch differenzierte Erhebung der individuellen Stärken und Schwächen in der Lesekompetenz haben Lehrerinnen und Lehrer die Möglichkeit, spezifische und individuell abgestimmte Maßnahmen zur Förderung der Lesekompetenz anzubieten. Den unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen entsprechend sind die Lernprozesse und -ziele zu gestalten und einer permanenten Evaluation zu unterziehen. Evaluation erfolgt, indem nach entsprechender Zeit, in der die Maßnahmen durchgeführt wurden, die Erhebungsverfahren erneut Anwendung finden und somit aufgedeckt werden kann, ob und für welche Kinder im Einzelnen die entsprechenden Maßnahmen effektiv waren. Diese Evaluation sichert somit die Qualität dieser Angebote. Regelmäßige Fortbildungen im Bereich effektiver Leseförderung und eine enge Zusammenarbeit sowie ein Austausch der Lehrerinnen und Lehrer einer Schule sind dabei zielführend. Auch für außerschulische Maßnahmen zur Leseförderung ist es unerlässlich, Erhebungsverfahren zur Evaluierung und somit Qualitätssicherung zu verwenden.
Konzepte zur Förderung des sinnverstehenden Lesens durch den Erwerb und das Üben entsprechender Lesestrategien in allen Unterrichtsgegenständen
Das Ziel jeder Leseförderung ist ein möglichst hohes Niveau sinnverstehenden Lesens. Lesestrategien sind dafür ein wichtiges, unterstützendes Handwerkszeug. Diese Fertigkeiten müssen aber eingeführt und geübt werden. Nur so lernen die Kinder diese Lesestrategien situationsgerecht einzusetzen. Um einen möglichst großen Übungseffekt zu erreichen und weil solche Lesestrategien auch in den meisten Unterrichtsgegenständen gebraucht werden, ist eine Zusammenarbeit der Pädagoginnen und Pädagogen unbedingt notwendig.
Im Grundsatzerlass Leseerziehung (Rundschreiben Nr. 11/2013. BMUKK-29.540/0028I/1/2012) wird dezitiert gefordert, dass Lesekompetenz domänenspezifisch (im Deutschunterricht) aber auch fachspezifisch in allen Unterrichtsgegenständen erworben und weiter entwickelt werden muss. Dieser klare Auftrag verlangt eine Zusammenarbeit aller Unterrichtsgegenstände bei der Leseförderung. Ein schulinternes Leseförderkonzept (z.B. im Rahmen von SQA) ermöglicht eine zielgerichtete, gemeinsame Vorgehensweise bei den Fördermaßnahmen. Die Schülerinnen und Schüler profitieren einerseits davon, dass sie häufiger mit bestimmten Lesestrategien konfrontiert sind und andererseits sich darauf verlassen können, dass ihre Vorgehensweise beim Bearbeiten von Aufgaben von allen Lehrerinnen und Lehrern unterstützt wird.
Mehr zielgerichtete „Lesezeit“ in der Schule
Eine größere Lesehäufigkeit führt zur Verbesserung der Lesekompetenz, was wiederum eine positive Auswirkung auf die Lesemotivation hat. Je häufiger und vielfältiger Kinder die Möglichkeit bekommen zu lesen, desto größer ist der Übungseffekt und desto eher erreichen sie eine gute Lesegeläufigkeit. Deshalb ist die „Lesehausübung“ alleine zu wenig und zudem sozial benachteiligend. Die Schülerinnen und Schüler müssen auch mehr Gelegenheiten zum Lesen – auch zum freien Lesen – in der Schule bekommen. Mehr Lesezeit in der Schule eröffnet verschiedene Möglichkeiten für eine differenzierte und individuelle Leseförderung.
Eine wichtige Unterstützung schulischer Lesefördermaßnahmen ist nicht nur in diesem Zusammenhang eine gut ausgestattete Schulbibliothek, die unter professioneller Leitung von den Pädagoginnen und Pädagogen genutzt wird. Auch der Grundsatzerlass Leseerziehung weist bei den „Kriterien zur Umsetzung der Lesefördermaßnahmen“ darauf hin, dass die multimediale Schulbibliothek in den Unterrichtsalltag integriert werden soll. Die Schulbibliothek bietet eine große Auswahl an Kinder- und Jugendliteratur und unterstützt so einerseits die unterschiedlichen Literaturpräferenzen der Kinder als auch differenzierten Leseunterricht. Als Lernort bietet sie die Möglichkeit verschiedene Lese- und Arbeitsstrategien zu üben und nicht zuletzt motiviert sie durch ihren vielfältigen Bestand Freizeitlektüre zu entlehnen.
Berücksichtigung des multimedialen, -modalen und -lingualen Lesens
Während Lesen oftmals noch stark mit dem traditionellen Buchlesen, beginnend links oben und endend rechts unten auf einer Seite, assoziiert wird, ist verstärkt innerhalb und außerhalb des Unterrichts die Lebenswelt der Kinder zu berücksichtigen, etwa dass Kinder viel und gern über digitale Medien (Computer, e-book, mobile Geräte wie Tablets und Smartphones) lesen. Dadurch eröffnen sich auch vielfältige Möglichkeiten, verschiedene Zeichensysteme (Bild, Ton, Musik) und auch verschiedene Sprachen – durchaus mit unterschiedlichen Schriftsystemen und -zeichen, insbesondere durch mehrsprachige Bücher, zu integrieren.
Konkrete Angebote schulischer bzw. außerschulischer Initiativen und Institutionen für eine breite Entwicklung der „Family Literacy“
Die Lesekompetenz und die Lesegewohnheiten sowie der Zugang zum Lesen und der Stellenwert des Lesens sind Ergebnis der Lesesozialisation. Eine positive Entwicklung derselben wird in überaus starkem Maße den Erfahrungen während des Aufwachsens im familiären Umfeld zugeschrieben. Versuche, „Family Literacy“ voranzutreiben und Eltern zu einer Sprachförderung ihrer Kinder zu motivieren oder gar anzuleiten, finden regional oder punktuell statt. Zielgruppe sind meist Kleinkinder oder eben die Eltern. Hier gilt es vor allem auch für die Kinder, die gerade Lesen lernen bzw. bereits lesen können attraktive, außerschulische Angebote zu machen, wobei vor allem auf leseferne Familien, die oft schwer zu erreichen sind, das Augenmerk gelegt werden sollte. Auch Schulen können entscheidende und flächendeckende Beiträge zu funktionierender Family Literacy leisten. Auf allen Stufen gilt es, den oben genannten Aktivitäten bewusst vermehrt Zeit zu widmen.